Ich freue mich sehr, dass ich eingeladen wurde, heute über meine Musik zu sprechen. Ein großer Dank gleich vorweg an die Musiker, die es ermöglichen, dass wir heute abend Musik "live" erleben können: Sebastian Wendt, Klarinette, und Magdalena Helpa, Bratsche, werden Zersprengte Weite spielen, und Snezana Nesic, Akkordeon, Tobol.

Ich denke, es gibt eine besondere Qualität eines Salons: in einem offenen, aber nicht anonymen Kreis einer überschaubaren Anzahl von Menschen etwas zu zeigen, und, vor allem, darüber zu sprechen. Das Zeigen heute abend ist das Spielen der Musik. Aber wie kann man darüber sprechen? Ich möchte zur Einführung ein paar Gedanken skizzieren, welche Arten des Sprechens über Musik es geben kann, und ich hoffe, dass sie dazu beitragen, einen Raum zu öffnen, in dem wir uns dann gemeinsam bewegen können.

Ich denke, es gibt drei Bereiche, über die man sprechen kann. Man kann darüber sprechen, wie eine Musik entstanden ist. Man kann darüber sprechen, wie eine Musik ist. Und man kann darüber sprechen, wie eine Musik gehört wird.

Das erste - wie ist eine Musik entstanden - betrifft die Seite des Komponisten. Man kann darüber sprechen, aus welcher Situation heraus ein Stück entstand. Was passierte biografisch, was politisch, wo entstand das Stück, in welchem Arbeitsumfeld, was war der Anlass. Das sind Fragen, die viel oder wenig mit dem musikalischen Resultat zu tun haben können. Ob sie von Einfluss sind oder nicht, und wie der Einfluss genau beschaffen ist, das muss man im einzelnen diskutieren. Aber es ist klar, dass Musik nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern von einem Menschen in einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit geschrieben wird, und für die beiden Stücke, die wir heute abend hören werden, sind nun einmal politische Anlässe prägend. Man kann der Meinung sein, dass es schädlich ist, darüber zu sprechen, aber prinzipiell ist das eine Möglichkeit.

Wenn man dann etwas spezifischer wird und sich mehr auf das einzelne Stück hinbewegt, kann man darüber sprechen, welche Gedanken und Gefühle dessen Hervorbringung begleiteten. Bei meinen Stücken gibt es oft ein inneres Bild, das gleichsam die Wurzel ist, aus dem das Stück wächst. Dieses innere Bild - nennen wir es Idee - ist nicht wesentlich sprachlich; es ist vor allem ein Raum- und Bewegungsgefühl; gleichzeitig mehr und weniger als das spätere Resultat. Es ist nicht wesentlich sprachlich, aber es hat oft sprachliche Anteile, und man kann es im nachhinein mehr oder minder gut beschreiben. Auch darüber also könnte man sprechen.

Ein letzter Aspekt schließlich des Sprechens über die Entstehung von Musik ist ein eher technischer: Wie hat der Komponist an dem Stück gearbeitet, welche Techniken hat er entwickelt oder benutzt, wie ist er zu diesen Tonhöhen gekommen, wie zu diesen Rhythmen, zu diesen Klangfarben? Wie hat er die Form entwickelt, mit welchen Proportionen hat er gearbeitet? Welche Wege ist er gegangen, welche Sackgassen vielleicht, wie hat er Entscheidungen getroffen, und wo welche? Spricht man darüber, spricht man auch darüber, ob ein Komponist eher intuitiv oder eher nach Plänen vorgeht. Für die Neue Musik ist das Sprechen über diese Techniken der Entstehung typisch für die seriellen Spielarten, die alle auf Schönbergs Formulierung der sogenannten Zwölftontechnik basieren.

Nun gibt es einen wunderbaren Brief von Schönberg an jemanden, der sich daran gemacht hat, die Zwölftonreihen in Schönbergs drittem Streichquartett herauszufinden. Schönberg korrigiert das hier und da, und dann schreibt er: Aber eigentlich ist das nicht das, was wichtig ist. Man findet da ja nur heraus, wie es gemacht ist, aber nicht, was es ist.¹

Das wäre also der zweite Bereich: Sprechen über das, was die Musik ist. Was kann das heissen? Das kann heissen, über die Partitur zu sprechen, sie zu analysieren. Der Unterschied zu einer "Analyse" der Partitur als Rückführung auf eine Kompositionstechnik ist hier, dass eine wirklich Analyse versucht herauszufinden und zu beschreiben, was ein Stück Musik ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass das meist unter einem Aspekt geschieht. In jedem Fall ist das, was über das "was es ist" gesagt wird, notwendiger Weise eine Deutung oder Interpretation. Eine Deutung kann "dem Kern der Sache" näher kommen oder ihn verfehlen, aber keine Deutung kann das Stück "erklären". Es bleibt immer ein Rest, ein Rätsel - hoffentlich, muss man sagen ... etwas das anzieht, weiter beunruhigt oder beglückt ... etwas das man nicht versteht.

Wenn es um das geht, was diese Musik ist oder wie sie ist, ist der Komponist bestenfalls einer unter vielen Deutern, aber keinesfalls ein bevorzugter und meist einer mit einem verständlicherweise höchst eingeschränkten Blickfeld. Ich will dazu ein konkretes Beispiel geben, damit es klar wird, über welchen Unterschied ich spreche. Bei einer Probe fragte mich Sebastian etwas zu den Hintergründen von Zersprengte Weite, und ich kam bei meiner Antwort darauf, dass eine Stelle aus Brahms' Tragischer Ouverture sehr wichtig war bei der Entstehung des Stücks. Und es gibt eine Stelle, in der das quasi als Extrakt kommt. Nun kann ich sagen, dass ich beim Schreiben dieser Stelle an das und das gedacht habe. Aber ist das dasselbe wie zu sagen, dass es das ist? Ich meine nicht. Vielleicht ist ja diese Stelle etwas ganz anderes, das ich selbst nicht weiss, und in jedem Fall zwingt nichts in dieser Musik, an genau das zu denken, an das ich vielleicht (als Zuhörer!) denke oder was ich empfinde.

Wenn man über das spricht, was ein Stück Musik ist, muss man den Mut haben zu deuten. Man muss die Genauigkeit haben, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, aber man darf sich seine Legitimation nicht von einer Übereinstimmung mit irgendwelchen Äußerungen des Komponisten holen. Das "wie es ist" bleibt ein im positiven Sinne verstandenes Rätsel, das nur immer wieder neu gelöst werden kann, aus einer immer auch subjektiv gefärbten Perspektive. Das ist kein Mangel, sondern es ist ein Gewinn, denn wenn eine Musik lebt, dann lebt sie doch dadurch, dass lebendige und unverwechselbare Menschen sich mit ihr befassen und sie in Verbindung mit ihrer Existenz bringen.

Das betrifft auch den anderen, musikalisch-praktischen Teil der Auseinandersetzung mit dem "was es ist", nämlich der musikalischen Interpretation. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres, als mit Musikern meine Stücke zu proben, aber eigentlich bin ich dabei in der Rolle eines Dirigenten: Ich kenne den Notentext gut und habe mein Verständnis von ihm. Aber letzten Endes müssen die Musiker ihre Deutung des Stückes erarbeiten und sich zu ihr bekennen: ihr Körper, ihre Energie, ihre Ohren, ihr Atem sind das, was die Musik macht, und sie vor allem lebendig macht.

Und damit komme ich zum letzten Bereich, über den man sprechen kann, und der mir für heute abend auch der wichtigste ist: Wie wird Musik gehört? Letzten Endes sind auch die Beschreibungen dessen, wie man eine Musik gehört hat, Teile der Erkundigungen dessen, was sie ist. Aber sie sind lockerer mit dieser Mitte verbunden. Sie haben nicht den Anspruch zu deuten, sondern beschreiben vom eigenen Standpunkt aus, wie man gehört hat, was sich beim Hören dieser Musik ereignete. Dabei ist wiederum wichtig, dass es keine bevorzugte Perspektive oder Sprechweise gibt. Sicher, einer mag vorgebildet sein und analytisch hören. Aber das ist um nichts besser und muss keinesfalls mehr über die Musik aussagen, als wenn einer vielleicht Farben oder Farbveränderungen sieht. Ein dritter fühlt Bewegungen. Ein vierter hat eine Phantasie. Selbst zu sagen, dass einem die Musik nichts sagte, und wie, sagt vielleicht etwas über die Musik. Oder dass man an einer bestimmten Stelle abgeschweift ist und einem dies oder jenes einfiel.

Mein eigenes Interesse heute abend ist, dass ich möglichst viel von euch darüber erfahre, wie ihr meine Musik hört. Vielleicht habt ihr wiederum mehr Interesse daran, von mir zu erfahren, wie sie entstanden ist. Ich schlage vor, wir machen es so: Ein Stück wird gespielt, und daraufhin sprechen zuerst alle die, die ihr Hören beschreiben wollen. Und dann die, die etwas wissen wollen, von mir oder von den Interpreten. Probieren wir's.


Der Salon wurde von Peter Rautmann und Darlén Bakke geschaffen und findet in ihren Räumen statt: http://listersalon.wordpress.com; diese Veranstaltung am 25.3.2011.

Die Stelle im Zusammenhang: "Die Reihe meines Streichquartetts hast Du richtig (bis auf eine Kleinigkeit: der 2. Nachsatz lautet: 6.Ton cis, 7. gis) herausgefunden. Das muss eine sehr große Mühe gewesen sein, und ich glaube nicht, dass ich die Geduld dazu aufbrächte. Glaubst Du denn, daß man einen Nutzen davon hat, wenn man das weiß? Ich kann es mir nicht recht vorstellen. Nach meiner Überzeugung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der Benützung der Reihen noch nicht gut auskennt, eine Anregung sein, wie er verfahren kann, ein rein handwerklicher Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen zu schöpfen. Aber die aethetischen Qualitäten erschließen sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei. Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist!" Arnold Schoenberg, Briefe, Herausgeber Erwin Stein, Mainz 1958, S. 178/179